Der unsichtbare Dritte – North By Northwest
Am 27. Dezember 2018 zeigte arte im Rahmen eines Programmschwerpunkts Alfred Hitchcock einen meiner All-Time Favoriten: Der unsichtbare Dritte mit Cary Grant in der Hauptrolle. Obwohl ich den Film auf Blu-ray besitze und schon unzählige Male gesehen habe, blieb ich wieder an der TV-Ausstrahlung hängen. Allerdings kann ich mich mit Cary Grants Stimme in der deutschen Synchronfassung nach wie vor nicht anfreunden. Während Curt Ackermann ihm über 10 Mal seine Stimme lieh, wurde er in diesem Film von Erik Ode gesprochen. Erik Ode war eigentlich als Hauptdarsteller der Fernsehserie „Der Kommissar“ bekannt und wenn er Synchronrollen übernahm, dann eher für Gene Kelly, Frank Sinatra oder Fred Astaire. Nichtsdestotrotz inspirierte mich die TV-Ausstrahlung zu diesem Blogeintrag.
Daher nachfolgend ein Auszug aus meiner Seminararbeit „Herrmann – Hitchcock | A Partnership in Terror: Die Bedeutung von Bernard Herrmanns Musik für Vertigo, North By Northwest und Psycho“ für das Proseminar II: Alfred Hitchcock bei Dr. Rainer Hartl am Institut für Theaterwissenschaft der LMU München.
Musikalischer Grundaufbau von North By Northwest
Hitchcock sah North By Northwest als die Summe seiner amerikanischen Filme [1], kann man daher Bernard Herrmanns Musik als Summe deren Zusammenarbeit betrachten? Mit Sicherheit nicht, dafür ist Herrmanns Werk zu abwechslungsreich. Die Musik zu North By Northwest liefert hierfür einen weiteren Beweis. Der Film hat eine Länge von 136 Minuten, Herrmanns Score dauert dagegen ungefähr nur 48:47 Minuten [2]. Dies ist im Verhältnis zur Filmlänge nicht sonderlich lang, es zeigt jedoch, daß beide sehr gut mit Toneffekten und dem Element der „Stille“ als spannungserzeugendes Instrument umzugehen verstanden.
Herrmann verwendet in North By Northwest mehrere Themen, davon sind am auffallendsten das „Love Theme“, das an unterschiedlichen Momenten im Film die Romanze zwischen Roger Thornhill (Cary Grant) und Eve Kendall (Eva Marie Saint) verdeutlicht. Es taucht in Cue #22, #28, #30 und #40 auf. Das bekannteste Thema ist allerdings das „Action Theme“, mit dem der Film auch beginnt; es taucht ebenfalls auf, als der betrunkene Thornhill versucht, sein Auto unter Kontrolle zu bringen [3] und am Ende der nachfolgend besprochenen Szene. Im wechselnden ¾ und 6/8 Takt [4] beginnt „the crazy dance […] between Cary Grant and the world.“ [5]
Die „Crop-Dusting Scene“
In dieser wohl berühmtesten Sequenz wartet Roger Thornhill an einer verlassenen Autobahnkreuzung mitten im Nirgendwo auf den mysteriösen George Kaplan und wird dann von einen Düngemittel versprühenden Flugzeug attackiert. Nach dem dritten Angriff flüchtet er in ein Maisfeld und stürzt sich kurz darauf mit Todesmut vor einen herannahenden Tanklastzug, der unmittelbar vor ihm abbremst. Der Pilot des Flugzeugs, welches gerade eine weitere Attacke starten wollte, verliert die Kontrolle und es explodiert in dem Tanklastzug.
Diese ungewöhnliche Szene dauert annähernd 10 Minuten (Anm. 2019: das YouTube Video oben zeigt nur den Höhepunkt und das Ende, die komplette Sequenz ist bei YouTube nicht verfügbar) doch bis auf die letzte Minute der Sequenz ist keine Musik zu hören. Bemerkenswert ist, daß die Musik erst genau zu dem Zeitpunkt einsetzt, als das Flugzeug am Tanklastzug explodiert. Hier zeigt sich das hervorragende Gespür, das sowohl Hitchcock als auch Herrmann für den Einsatz von Musik bewiesen. Bis zum Zeitpunkt der Explosion herrscht vor allem Stille, die einzigen Geräusche sind Umgebungsgeräusche. Es sind dies vorbeifahrende Autos, eine kurze Konversation mit einem Passanten, der auf den Bus wartet und schließlich das nahende Flugzeug.
Das Fehlen jeglicher Hintergrundmusik unterstreicht den Realismus der Szene
und läßt die gesamte Umgebung nicht bedrohlich erscheinen. Durch die langsame Steigerung der Toneffekte, vor allem des sich nähernde Flugzeugs, wird gleichzeitig eine Steigerung der Spannung erzielt. Mit der einsetzenden Musik bei der Explosion des Flugzeugs (Cue #29, „The Crash“) wandelt Herrmann das Fandango- Motiv aus dem Haupttitel ab und löst zwar so die unmittelbare Spannung auf, zeigt uns aber damit auch, daß die Flucht noch nicht beendet ist und es ohne Pause weitergeht. Eva Rieger liefert noch einen weiteren Interpretationsansatz:
Tatsächlich entwickelt die Szene gerade ohne Musik ihre lähmende Wirkung und unterstreicht die Einsamkeit des Einzelnen gegenüber der scheinbar übermächtigen, tödlichen Macht. Die Leere und Schutzlosigkeit der Landschaft korreliert mit Rogers Wandlung vom arrogant-oberflächlichen Werbefachmann zum hilflosen Gewaltopfer. [6]
Auch David Bondelevitch würdigt das Fehlen von Musik in dieser Szene:
Most film composers would have looked at this scene as an opportunity to demonstrate compositional skills. Herrmann, however, rejected any request for music. […] Hitchcock had already established in the film that Roger is most comfortable in the cramped surroundings of the city […] and is most in danger when he is alone […].In the cropduster sequence, Hitchcock starts with a high angle shot of the open farmland, symbolizing his complete isolation. Having silence rather than music on the soundtrack reinforces his loneliness very effectively.[7]
Bemerkenswert ist, daß Herrmann zwar ein Stück namens „The Highway“ für den Beginn der Szene geschrieben hatte (es sollte Verwendung finden während Thornhill auf George Kaplan wartet noch ehe die eigentliche Jagd beginnt); es wurde jedoch im fertigen Film nicht verwendet.[8]
Literaturverzeichnis
[1] Vgl. [amazon_textlink asin=’3453861418′ text=’Truffaut, François: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?‘ template=’ProductLink‘ store=’movieposter0f-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’a39a9fe2-7408-11e8-a8fc-6fe0e3b2397a‘] (20. Aufl.). München, Heyne, 1998, S. 245.
[2] Vgl. [amazon_textlink asin=’B01K0UDYGG‘ text=’Karlin, Fred: Listening to Movies: the film lover’s guide to film music‘ template=’ProductLink‘ store=’movieposter0f-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’a39a9fe2-7408-11e8-a8fc-6fe0e3b2397a‘]. New York: Schirmer Books, 1994, S. 117.
[3] Vgl. Ebd., S. 121.
[4] Eva Rieger spricht hier zwar von einem 3/8 Takt (Vgl. Rieger, Eva: Alfred Hitchcock und die Musik. Eine Untersuchung zum Verhältnis von Film, Musik und Geschlecht. Bielefeld: Kleine, 1996, S.186.), es wird aber davon ausgegangen, daß Fred Karlins Angaben korrekt sind.
[5] zit. b. [amazon_textlink asin=’B003EV5PTS‘ text=’Smith, Steven C.: A Heart at Fire’s Center: The Life and Music of Bernard Herrmann‘ template=’ProductLink‘ store=’movieposter0f-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’a39a9fe2-7408-11e8-a8fc-6fe0e3b2397a‘]. Berkeley und Los Angeles: University of California Press, 1991, S. 227.
[6] Rieger, E.: a.a.O., S.186.
[7] Bondelevitch, David J.: A Case Study of the Bernard Herrmann Style, o.J., Online. Internet: http://nextdch.mty.itesm.mx/~plopezg/Kaplan/herrmann/bhindex.html, abgerufen am 13.02.99. aktueller Link (02.01.2019): http://hitchcock.tv/essays/herrmann/herrcase1.html
[8] Vgl. Ebd.
Alle Bilder: © Metro-Goldwyn-Mayer Studios Inc., All rights reserved.
Eine weitere sehr interessante Analyse dieser Szene aus Der unsichtbare Dritte findet sich bei YouTube: